Ich frage mich ja immer, welche Funktion diese Begriffe erfüllen. Offensichtlich haben sie eine. Sonst würden sie nicht verwendet. Worum geht es also? Um es vorwegzunehmen: Sinnvoll finde ich diese Differenzierungen selten. Aber ich habe auch einen romantischen Begriff von Erfahrung, von der ich gar nicht so sicher bin, ob es sie gibt; Erfahrung, die nicht schon vorgängig fixiert ist.
Ich teile es also tendenziell, wenn der Ursprugnsartikel schreibt: "Begriffe werden mit der Zeit noch detaillierter, jeder möchte von einem einzigen Wort genau beschrieben werden. Mehr Begriffe und mehr Abgrenzung fördern Angst, das Gefühl nicht verstanden zu werden, Vorurteile und Intoleranz." Genau diesem seltsamen Widerspruch zwischen Freiheitsversprechen, Individualität und Einschränkung von Erfahrungsmöglichkeiten möchte ich weiter unten mit ein paar, ziemlich wilden Vermutungen nachgehen.
Ich fand den verlinkten Ursprungsartikel interessant, finde aber Aussagen wie "Littles sind so individuell, wie die Menschen selbst. Jeder lebt es auf seine Weise aus" zu banal. Geht es um Beziehungsdynamiken, Begehren und überhaupt Wollen gilt doch immer: Dieses entsteht nicht im stillen Kämmerlein, sondern wird immer auch innerhalb komplexer gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Prozesse ausgebildet. Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem individuell ist. Nur mein Wollen ist halt nie nur mein Wollen.
Ich habe einen bunten Strauß an Vermutungen mitgebracht:
* Zum Anfang ganz wilde Vermutungen: Mich würde die Geschichte dieser Abkürungsbeschreibungen sehr interessieren. Ich hatte mal vor zig Jahren eine Seite gelesen, die auf die Geschichte von AB/DL eingegangen war (irgendwo, englischsprachig), leider finde ich sie nicht mehr. Wenn ich mich recht erinnere, stammen diese Zweibuchstabenabkürzungen aus der Fetischliteratur, beginnend etwa in den 70er und dienten als eine Art Navigationshilfe, um das gebotene Material schnell mit den eigenen Vorlieben abgleichen zu können, irgendwann (bei WetSet?) tauchte dann AB/DL auf. Am Anfang sind diese Abkürzungen also so etwas wie die Schilder im Supermarkt gewesen, die zeigen, wo die gesuchte Ware steht. Mir scheint heute, dass viele dieser Abkürzungen auch dazu dienen, spezialisiertes Nischen-Publikum mit seinem Material zu erreichen (etwa auf Tumblr, was bis zu einer Gesetzesänderung eine ziemlich beliebte Plattform war für spezialisierte Sexworker; die Abkürzungen erlaubten dann als Hashtag ein leichteres Auffinden); wenn man so will, ist diese Kategorie in einer Hinsicht also eine Art Kommodifizierungseffekt, der auf Sexualität wirkt: Um etwas als Ware anbieten zu können, muss ich es bewerben, benennen und vergleichbar zugänglich machen.
** Das gilt nicht nur für Sexworker, sondern auch für das krass ausdifferenzierte Warenangebot, das den glücklichen Perversen heute begegnet (ich mein, allein Windeln: bunte Windeln, Prinzessinenwindeln, Widneln mit infantilen Symbolen, Jeanswindeln, schwarze BDSM-Windeln, Inkowindeln, High-Tech-Produkte, Stoffwindeln, Stoff-Pullups,...).
* Unterscheidet sich die Abkürzungsexplosion eigentlich so sehr von der Explosion an Biersorten? Von IPA, APA, DIPA ist es gar nicht so weit zu AB/DL, DD/LG, CG/LG (...): In der Soziologie ist es Sport, sich einen Namen damit zu machen, die heiße Gegenwartsdiagnose zu liefern. Das geht nur mit viel heißer Luft. Vor zwei Jahren erschien Reckwitz "Gesellschaft der Singularitäten". Jetzt mal sehr grob und soweit hier systematisch interessant: Er geht davon aus, dass sich die Gegenwartsgesellschaft fundamental von der vorhergehend dominanten verallgemeinernden Moderne unterscheidet und zwar darin, dass sie auf Besonderung setzt. Ausgang sind Phänomene wie z.B. die Beliebtheit von Craft-Beer, aber auch spannendere Fragen wie die, dass es eine eine Art alte Mittelschicht gibt (Facharbeiter, Leute, die Routineaufgaben sehr gut machen und früher dafür gut entlohnt werden; die Aufgaben werden heute immer noch von Menschen gemacht, nur als minderwertig angesehen und schlechter bezahlt) und eine neue (Freelancer, Kulturarbeiter), die wahnsinnig viel Energie in kulturelle Aufwertungs- oder Besonderungspraktiken steckt. Besonderung heißt bei ihm ein kultureller Prozess, der etwas als besonderes auszeichnet und darin aufwertet und zugleich anderes abwertet. Es muss das spezialisierte Kuchengeschäft sein, bei dem Heinz und Justin am Ofen stehen, etwas backen, dass es nur in dieser Straße gibt und nicht die Torte vom Bäcker nebenan. Was ich daran hier interessant finde: Die Explosion dieser Abkürzungen ließe sich vielleicht auch als Element dieser Besonderungsdynamik verstehen. Das ist jetzt grob, aber hier mal meine These: Weil Vanilla-Sexualität in den urbanen Mittelschichtsmilieus tendenziell weniger interessant ist, gibt es eine große Aufmerksamkeit und Bereitschaft, seine Sexualität oder Beziehungsdynamik zu ver-besondern oder als solche darzustellen; statt also etwas eine gar nicht so untypische heteronormative Zweierbeziehung zu nennen (manche Interpretationen von DD/LG) ist es DD/LG und damit etwas ganz Besonders (erinnert sich noch wer daran, dass vor ein paar Jahren BDSM plötzlich gesellschaftsfähig wurde?). Mir geht es nicht darum, zu sagen, dass DD/LG falsch ist oder so, sondern hier nur die kulturellen Prozesse als Aufwertungsdynamiken parallel zu anderen Gegenwartsdynamiken beschreiben.
* Ein globalisierter Datingmarkt braucht seine Komplexitätsreduktion: Ich kann nicht alle Menschen der Welt kennenlernen. So ähnlich wie auch Glutenunverträglichkeit, Vegetarismus oder andere Ernährungstrends helfen (ohne sie darauf reduzieren zu wollen), mit der Komplexität eines ausdifferenzierten Konsumangebots umzugehen (als Vegetarier würde ich es nie leugnen, dass es mir auch etwas abnimmt, im Restaurant manches nicht auswählen zu können), so ähnlich funktionieren auch die Abkürzungslogik. Ich kann damit potentielle Partner oder Konsumangebote vorsortieren, weil ich mich sonst ewig durch Scheiß klicken muss, bis ich z.B. die passende Geschichte zu meinem Kopfkino finde. Das hat dann selbstverstärkende Effekte, wenn ich auf sozialen Werbeplattformen mir meine eigene Blase schaffe, in die nur kommt, was ich vorher als potentiell interessant markiert habe (auch wenn Informatiker uns was anderes erzählen wollen, haben wir alle gemerkt dass selbst die ausgeklügelten Amazon-Algorithmen nicht wirklich wissen, was ich kaufen will, sondern nur in bestimmten Grenzen interpretierend fortschreiben, was ich und andere, die ein ähnliches Klickverhalten wie ich haben, zuvor angeklickt habe; das heißt nicht, dass nicht oft genug die Empfehlungen trotzdem passen, mir ging's nur um den selbstverstärkenden Effekt)
* Die Abkürzungen sind Ausdruck der gegenwärtigen identitätspolitischen Konjunktur: Begehren hat immer etwas Unverfügbares. Wohl jede_r kennt die Erfahrung aus der eigenen Pubertät, auf einmal mit Träumen und Wünschen konfrontiert zu sein, die von Nirgendwo zu kommen scheinen. Aber auch als Mensch, der sein Begehren zu kennen meint, erfahre ich, dass ich nicht beliebig über es verfügen kann. Ich kann nicht wollen, was ich begehre. Das hat etwas bedrohliches. Die Umgangsweise in der Gegenwart damit ist, Begehren identitätstheoretisch zu überformen. Statt es also moralisch zu regulieren, wie es noch vor 50 Jahren üblich war, gilt heute: "Entdecke, was Du wirklich, eigentlich, willst." Die vielen Abkürzungen sind, in einer Hinsicht, Versuche Begehren zu kategorisieren und identitär verdinglichen. Statt dass Begehren fließt, sich verändert, neue Perversionen sich einen Weg suchen (und damit die bedrohliche Erfahrung zuzulassen, etwas begehren zu müssen, was man nicht willkürlich beherrscht), wird Begehren in die Form gebracht: "Ich bin eine Person, die X mag."; damit wird ein Wahrheitskriterum für Begehren etabliert; ich kann zwar nicht mehr moralisch falsch begehren, aber mich um mögliches Glück betrügen, wenn ich nicht so begehre, wie ich eigentlich bin
** Um's noch einmal klar zu sagen: Das heißt übrigens nicht, dass das falsch ist. Identitätspolitik schafft auch Sichtbarkeit. Als mein Begehren entdecke, war für mich interessantes Material (mit wenigen Ausnahmen) nur an ziemlich zwielichtigen Ecken des Internets zu entdecken; als 14-Jähriger hätte ich mir die heutige Vielfalt, die zudem leicht zu finden ist, sehr gewünscht. Ich denke nur, dass wenn zu sehr oder allein auf dieser Verknüpfung Identität-Freiheit bestanden wird, übersieht man, was dabei verloren geht, dass das *ein Mittel ist*, um etwas zu finden, das mich jetzt interssiert und nicht die Wahrheit über einen selbst
** Diese Perspektive wird dadurch plausibilisiert, dass viele dieser Abkürzungen auf Tumblr und ähnlichen Seiten entstehen, wo sich schnell Mikrocommunitys bilden und Leute, die Erfahrung haben mit identitätspolitischen Begriffen, sie umwandeln und aneignen
** Das treibt mitunter krasse Blüten:
https://www.independent.co.uk/news/worl ... 69051.html, vor allem aber:
https://www.dailywire.com/news/trans-ag ... stigiacomo
* Woanders hatte ich schon über das Missverständnis souveräner Sexualität geschrieben und glaube wirklich, dass das auch ein Element dieser Abkürzungssache ist (ist ja auch recht ähnlich zum Problem der Identitätspolitik):
viewtopic.php?f=24&t=1722&p=18515&hilit ... A4t#p18515
Keine Ahnung, wie zugänglich das jetzt ist. Ich bin übermüdet, aber ich werf's mal in die Welt.
Ich find, ganz persönlich, diese ganze Abkürzerei und Spezialisierung frustrierend.
Vielleicht sind all die Überlegungen oben unnötig und es ist alles ganz einfach: Da sind halt Jugendliche, die die Begriffe erfinden.
Die hatten immer schon ihre Geheimsprachen.
Aber vielleicht ist das auch nur die Perspektive als Fast-Mittelalter-Mann.
Übrigens, einen spannenden Ansatz, um statt über Abkürzungen zu (sehr? zu) differenzieren, fand ich eine aufgeklärte psychoanalytische Perspektive, wie man sie zum Beispiel hier findet:
https://portal.dnb.de/opac.htm?method=s ... osition=14. Sie unterscheidet zum Beispel (wenn ich mich grad recht erinnere) zwischen unterschiedlichen Erotiken wie "Haut- und Blickerotik" oder "Urethralerotik" (etwa Lustgewinn durch Urinieren) in einer klugen, nicht-normativ entwicklungspsychologischen Interpretation der Freud'schen Phasentheorie, da geht's dann um Spannungszustände und sowas. Wie immer bei psychoanalytischen Texten habe ich das Gefühl, nur die Hälfte verstanden zu haben, aber ich fand's eine sehr aufschlussreiche Perspektive, weil sie ein ganz anderes Vokabular bereit stellt als die Abkürzerei. Um eben darüber zu sprechen, was mir Lust macht, gerade, seit ein paar Wochen oder in bestimmten Situationen.