Das sehr eingeschränkte Angebot an gängigen Beziehungsmodellen in demokratisch-liberalen Gesellschaften ist anachronistisch. So richtig passt das geltende Leitbild einer monogamen und dyadischen Liebesbeziehung nicht mehr zu einer mittlerweile stark individualisierten, diversen und - zumindest in großen Teilen - emanzipierten Gesellschaft. Sehr viele Menschen wollen ihre ganz spezifischen Bedürfnisse und Lebensvorstellungen verwirklichen, und immer mehr können das auch tatsächlich tun. Wenn es nun um das Verwirklichen emotionaler, erotischer und sexueller Vorstellungen im Leben geht, hat die monogame Dyade einige entscheidende Nachteile. Denn dadurch, dass das gesamte Repertoire an vielfältigen individuellen Bedürfnissen beider Partner in eine einzige, geschlossene Beziehung fließt, kann...
- eine große Last auf dieser Beziehung und den beteiligten Partnern liegen, dass diese Bedürfnisse auch tatsächlich alle in der Dyade erfüllt werden
- eine Situation wiederkehrend und dauerhaft enttäuschter Erwartungen entstehen, die auf Kosten von Wertschätzung füreinander geht
- ein impliziter (oder auch expliziter) Druck aufgebaut werden, dass der Partner oder die Partnerin sich verändern oder anders sein müssen
- ein Gefühl der Unfreiheit entstehen, weil die Partner hin- und hergerissen sind zwischen der Erfüllung der eigenen und der Berücksichtigung der Bedürfnisse des anderen
- ein permanent schlechtes Gewissen sowie ein großer Verlust von Nähe und Authentizität aufkeimen, wenn einzelne individuelle Bedürfnisse auf geheimem Wege außerhalb der Dyade erfüllt werden (klassisches Beispiel ist die Affäre)
- ein Gefühl des Mangels und/oder Funktionieren-Müssens aufkommen, weil einer oder beide Partner ständig Kompromisse eingehen, um die normativen Verhaltensmuster der monogamen Dyade bedienen zu können
Skizze: Die polyamore Cgl-Familie
Nun existieren ja, wenn auch eher im subkulturellen Bereich, bereits eine ganze Reihe von unterschiedlichen Formen alternativer Beziehungsmodelle. Hier möchte ich gern das spezielle Beziehungsmodell einer polyamoren Cgl-Familie skizzieren und hoffentlich mit Interessierten diskutieren und weiterentwickeln.
Grundidee ist ein fester Kreis besonderer Menschen, die ihre emotionalen, erotischen und sexuellen Bedürfnisse miteinander teilen und gegenseitig erfüllen, die füreinander da sind, sich gut tun, sich gegenseitig unterstützen, auffangen, Liebe & Respekt zukommen lassen, schöne Erlebnisse miteinander generieren, und die sich einfach ganz genau so akzeptieren, sein und frei lassen, wie jede(r) einzelne ist.
Die polyamore Cgl-Familie ist also kein offenes Beziehungsmodell, sondern quasi-geschlossen oder allenfalls halb-offen. Denn die Erfüllung der unterschiedlichen Bedürfnisse geschieht innerhalb, nicht außerhalb der Familie und der Kreis kann nicht willkürlich, sondern nur in Abstimmung mit allen Familienemitgliedern erweitert werden. Dadurch erhalten die Familienmitglieder Sicherheit und das gesamte Beziehungskonstrukt Stabilität.
Transparenz über die individuellen Bedürfnisse der Beteiligten ist sehr wichtig: Zum einen, weil dadurch eine besondere Tiefe, Nähe und Akzeptanz untereinander geschaffen wird, die letztlich bei allen das Gefühl weckt, genau so angenommen und geliebt zu sein, wie man wirklich ist. Zum anderen, weil nur durch Transparenz der individuellen Bedürfnisse herausgefunden werden kann, auf welche Weise sich die einzelnen Familienmitglieder gut tun können, wer also welche Bedürfnisse wie erfüllen kann. Dabei sind Bedürfnisse wirklich breit zu denken: Erotische und sexuelle Kinks können genauso dazugehören, wie das emotionale Bedürfnis nach Aufgefangen- und Angenommensein oder unbeschwert miteinander zu spielen.
Die Möglichkeiten der Erfüllung individueller Bedürfnisse im Rahmen einer Cgl-Familie ist durch den erweiterten Kreis von Menschen zweifellos weit größer, als dies in einer Dyade der Fall sein kann. Und das betrifft natürlich auch ganz lebensweltliche Dinge: Einen anderen Menschen zu unterstützen, wenn dieser in einer Krise ist, da zu sein, wenn ein Familienmitglied krank ist, auszuhelfen, wenn etwas getan werden muss, einen Rat zu geben, wenn jemand nicht weiter weiß, materielle Dinge zu teilen, wenn etwas gebraucht wird.
Der Cgl-Aspekt ist für eine polyamore Familie zwar nicht notwendig, aber für das Funktionieren und die Dynamik ungemein förderlich. Die Caregiver innerhalb der Familie übernehmen die Aufgabe, das Konstrukt, die Harmonie und letztlich das Wohlbefinden aller Familienmitglieder sicherzustellen. Die littles innerhalb der Familie sind frei vom Druck der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse, wie es innerhalb einer dyadischen Beziehung der Fall sein kann. Sie können sowohl in Richtung Caregiver als auch in Richtung anderer littles ganz befreit aufspielen, ausprobieren und sich dadurch in einem geschützten, aber bunten Familienuniversum entfalten - was wiederum sehr positive Impulse für die gesamte Atmosphäre innerhalb der Familie mit sich bringt.
Diese Gedanken sind eine erste Skizze, was eine polyamore Cgl-Beziehung ist und welche Vorteile sie den Beteiligten bringt. Viele offene Fragen und sicher auch ungesehene Risiken werden auftauchen, wenn man sich weiter hineindenkt und hineinprobiert. Aber genau das ist spannend, interessant und hilft bei der Weiterentwicklung der Idee und auch der eigenen Persönlichkeit. Hoffe, die eine oder den anderen aus der Community hier durch die Idee ein wenig inspiriert zu haben. Vielleicht gibt es ja auch Feedback, Gedanken und Diskussionen zu dazu. Darüber würde ich mich sehr freuen...