Als aufmerksamer Leser, der nichts ahnend am Schreibtisch sitzt, und eigentlich nur etwas über den Utopiebegriff lernen möchte, schaue ich mir natürlich die Fußnote an, die diesen Satz begleitet -- und siehe da:diese Gesellschaft nicht eher zur Ruhe kommt, bis sie mir die Pflege meiner Manien erlaubt [...], seien sie auch noch so 'bizarr' oder 'subaltern' wie die der Liebhaber alter Hühner oder die der Dreckfresser (so der Astronom Lalande, der gern lebende Spinnen aß), der Anhänger der Butterbirne, der Bergamottbirne, der Rousselette, der Fersenkitzler oder der alten sentimentalen Puppe.
Die neue Liebeswelt ist von 1816. Wird hier der erste mir bekannte Ageplayer der Literaturgeschichte beschrieben?Die Fersenkitzler sind Männer, die gern die Ferse ihrer Maitresse kitzeln; die sentimentale Puppe ist ein Sechzigjähriger, der sich gern als kleiner Knirps behandeln läßt und will, daß seine Soubrette ihn züchtigt, 'indem sie sanft auf seinen patriarchalischen Hintern klopft' (Charles Fourier, Le Nouveau Monde amoureux, Ceuvres complétes, Bd. VII, 334).
Im Original heißt es (wenn ich die richtige Stelle gefunden habe):
Fliedner übersetzt (in der 2012 erstmals erschienen Übersetzung, die sich im von HAns-Christoph Schmidt am Busch herausgegeben Band "Über das weltweite soziale Chaos" findet):J'entends par manies lubriques certaines habitudes bizarres, tant en matériel qu'en spirituel ; entendez les femmes qui ont eu beaucoup d'amants et les hommes qui ont eu beaucoup de maîtresses : ils ont à citer une kyrielle des manies secrètes de chacun, il y en a même de fort plaisantes, car certains hommes du genre cafard aiment à être menacés, battus et maltraités horriblement par leur belle, en paroles et en actions. J'ai vu un jour un fouet pire que celui de la passion de Jésus-Christ et la femme qui s'en servait m'assura qu'elle [...] à force de bras sur son quidam, tout en l'accablant d'imprécations, et qu'il était très content de cette courtoise mignardise. D'autres aiment à battre et payent fort cher des femmes pour le plaisir de les déchirer, de couper. Ceci est manie matérielle ; il en est du genre sentimental, surtout chez les vieillards. Tel aime à se faire vêtir et traiter en marmot ; la soubrette le coiffe d'un bourrelet d'enfant et l'on met en pénitence le poupon sexagénaire pour avoir fait des sottises ; en vain essaie-t-il de crier grâce ; il faut qu'il soit puni, il a trop fait le sot, il est forcé de le corriger, là-dessus, et l'on tapote doucereusement son fessier patriarcal, puis on lui fait demander pardon et baiser le fouet avec promesse d'être sage ; ceux qui ont cette manie peuvent composer le monde des vieux poupons qui est du genre sentimental, comme illusion amoureuse en sentiment de famillisme ; elle serait matériel si se bornait à la flagellation très en vogue chez divers vieillards. (Enfants même ont manies spirituelles.)
Unter schlüpfrigen Manien verstehe ich gewisse bizarre Angewohnheiten, sowohl körperlicher wie geistiger Art. [...] Genauso gibt es Manien des Gefühls [vorher zählt Fourier Manien des Körpers auf, gemeint sind vor allem Sadomasopraktiken; ByeBye], die vor allem bei den Greisen vorkommen. Die einer liebt es, sich als kleiner Junge zu verkleiden und sich ebenso behandeln zu lassen. Das Kindermädchen setzt ihm ein Häubchen auf und bestraft den sechzigjährigen Knirps, weil er unartig gewesen ist. Vergeblich bettelt er um Gnade, Strafe muss sein. Er hat zu viel Schabernack getrieben [...]. Man tätschelt sanft seinen patriarchalischen Hintern, dann lässt man ihn um Verzeihung bitten. Er muss die Rute küssen und versprechen, von nun an brav zu sein.
Das sympathische ist nun, dass Fourier diese Manien nicht ohne Wertung aufzählt, sondern sie (neben seiner Lust, alles mögliche zu klassifizieren) deswegen aufführt, weil er eine Gesellschaft allgemeinen und individuelle Glücks entwirft. Insofern stellt er sich ungefähr soetwas wie dieses Forum hier vor:
Übrigens: Anders als in diesem Zitat anklingt, denkt Fourier Frauen nicht nur als passive Objekte, sondern fordert ihre allgemeine Emanzipation, auch im Sexuellen und darüberhinaus die Einführung eines dritten Geschlechts wie ein Grundeinkommen (kein Witz, das steht wirklich explizit in seinen Texten, dafür aber auch allerhand antisemitischer Dreck, den ich hier einfach mal ignoriere).Dann wird man, statt sich, wie in der Zivilisation [das ist Fouriers Begriff für die Gegenwartsgesellschaft von 1816] über die Manien des Einzelnen lustig zu machen, daran gehen, sie zu fördern, und in Gruppen zusammenfassen. Wenn sich in einer zalreichen Armee ein Dutzend Männer finden, die gerne Fußsohlen kitzeln, und ein Dutzend Frauen, denen dieser Zeitvertreib Vergnügen bereitet, dann hat man die Varietät der 'Fußsohlen-Verehrer', die ebenso nützlich sein wird wie alle anderen"
Allerdings ist er sich auch sicher, dass, wenn die Welt erst einmal so eingerichtet ist, dass Menschen ihre Leidenschaften aufleben, es eine neue Schöpfung geben wird, die unter anderem auch Antiratten und -Giraffen kennt (und nicht Gegengiraffen, das sind für ihn nämlich Rentiere. Ja, Fourier ist neben all dem auch noch: lustig! Im deutschsprachigen Raum tobte ungefähr in der gleichen Zeit Hegels Weltgeist; welch Unterschied.) und hat eine ganze Kosmogonie, in der sich Planeten begatten und neue Tierarten hervorbringen.